Mensch-Maschine und Maschinen-Mensch

Johannes Stiehler
Arbiträre Ausbrüche
#TextKI
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Eigentlich bin ich ja nur genervt von den vielen „Wird die KI dich deinen Job kosten?“-Clickbait-Artikeln. Die Frage ist sicher valide, aber es gibt im Moment eigentlich keine Basis, um sie sinnvoll zu beantworten.
Allerdings habe ich auf einer USA-Reise kürzlich etwas erlebt, das mich in meiner eigenen Meinung zu dem Thema bestätigt hat, also lasse ich mich doch zu einem Post dazu hinreißen:

Vor ein paar Wochen versuchte ich, mit dem öffentlichen Nahverkehr von Jersey City nach New York City zu kommen. Dummerweise ist die NJ Transit App nicht auf deutschen Telefonen im App Store erhältlich, ich musste mich also mit Papiertickets behelfen. An der Bushaltestelle in Jersey City gab es aber keinen Ticketautomaten, so dass ich - mit ungewöhnlich viel Planung - am Abend vorher in NYC das Ticket für den Bus in Jersey City am nächsten Morgen kaufen musste.
Die Ticket-Schalter des NJ Transit im Port Authority Bus Terminal kenne ich dadurch etwas besser, als ich mir das gewünscht habe, aber ansonsten war das kein großes Problem. Jeden Abend musste ich eh dahin, um „heim“ zu fahren, also konnte ich auch gleich bei dem grimmigen Ticketverkäufer die Karte für den nächsten Morgen lösen.

Das klappte bis zu dem Tag, als ich versuchte, dort auch das Ticket von Jersey City nach Newark zu bekommen. Ja, auch das ist ein NJ Transit Bus und ich befand mich am NJ Transit Ticket Schalter in New York City bei einem NJ Transit Ticketverkäufer. Dennoch war dessen Antwort nur: Das verkaufen wir nicht. Ich versuchte, ihn freundlich darauf hinzuweisen, dass es sich um eine simple 1-Zonen-Karte handle, wie er sie sicher unzählige Male verkaufe.
Der Herr Ticketverkäufer hackte unsäglich langsam und einfingrig auf sein Windows 95 oder 98 oder was weiß ich ein und blieb dann eisern: Weder sei er zuständig für den Nahverkehr in New York City (das stimmte) noch für den auf der anderen Seite des Hudson (das stimmte nicht), sondern nur für den zwischen beiden. Ich solle bitte zum Beratungsschalter gegenüber gehen, um diese Einsicht nochmal von offiziellerer Seite präsentiert zu bekommen.
Nach einigem fruchtlosen Hin und Her, das ihn nicht überzeugen konnte – schließlich war ja ein Glasplatte zwischen uns – folgte ich diesem „Rat“.

In der Beratungsglasbox warteten ca. ein Dutzend Leute auf ähnliche Hilfeleistungen. Es dauerte fünf Minuten, bis ich verstand, dass diese alle zur gleichen Familie gehörten und schon von einem „Berater“ „bedient“ wurden oder wie auch immer man das ausdrückt.
Entsprechend schnell war ich an der Reihe, doch nachdem ich mein Anliegen vorgetragen hatte, tippte Herr Berater genauso langsam in genau dem gleichen uralten UI herum wie Herr Ticketverkäufer. Nach Minuten quälender Stille kam er zu dem Schluss: „Da müssen Sie doch nur eine 1-Zonen-Karte am NJ Transit Schalter lösen.“ Ach so…
Der entscheidende Unterschied: Herr Berater druckte mir das Ergebnis seiner Recherchen aus. So konnte ich es zu Herrn Ticketverkäufer tragen, der mir dann genau das Ticket ausstellte, das ich ursprünglich gewollte hatte (und mit dem ich auch am nächsten Morgen Richtung Flughafen starten konnte). Insgesamt ein Vorgang von 45 Minuten mit mittleren bis hohen Ärgerniveau.

Was hat das nun mit KI und Jobs zu tun? Dadurch, dass die App nicht funktioniert hat, habe ich jeden Tag 10 Minuten mit Ticket-Käufen zugebracht und musste immer schon die Fahrten für den nächsten Tag planen. Ich hätte gern einen Automaten an der Bushaltestelle gehabt, aber kein Problem.
Erschütternd wurde die Erfahrung als ich mit Menschen zu tun bekam, die auch nur ihre Algorithmen abspulten und sich wie unhöfliche Automaten benahmen. In dem Moment wäre mir die Berechenbarkeit und Verlässlichkeit eines tatsächlichen Automaten unendlich viel lieber gewesen. Von meiner Zeitersparnis und der Kostenersparnis für das eh schon schlecht ausgestattete ÖPNV-System ganz zu schweigen.

Hier ist meine persönliche Moral dieser und ähnlicher Geschichten: Ich weiß nicht, ob Ihr Job irgendwann von einer KI bzw. einem Roboter vernichtet werden wird. Aber ich weiß, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, wenn Sie sich jetzt schon wie ein Roboter benehmen. Ob das Anwälte sind, die immer nur das gleiche Vertragstemplate hervorkramen und doch jedes Mal voll abrechnen, Copywriter, die Ziel-Keywords zu immer gleichen Clickbait-Artikeln verwursten oder Ticketverkäufer, die ihren Job schlechter und unhöflicher machen als ein Automat. Hier entsteht ein regelrechter Unterdruck nach Automatisierung, der von den aktuellen und zukünftigen Technologien gefüllt werden wird.

Unabhängig von der Ticketgeschichte habe ich auch das Gefühl, dass KI einen Trend umkehren könnte, der durch das Internet (bzw. das damals sogenannte Web 2.0) überhaupt erst entstanden ist: Das Phänomen eines unglaublich breiten sichtbaren Mittelmaßes. Erst Flickr, 500Px und Instagram haben ermöglicht, dass Millionen mediokrer Fotografen ein Publikum finden. Blogs und Publishing-Plattformen wie Medium haben jedem, der Wörter aneinanderreihen kann, erlaubt, auch Leser damit zu belästigen. Vorher konnten nur wenige, hoffentlich exzellente Photographen, Künstler, Schriftsteller überhaupt auf Erfolg hoffen. Es wirkt ein bisschen so, als würde gerade dieses breite Mittelmaß in absehbarer Zeit wieder in der Versenkung verschwinden, weil die entsprechenden Plattformen von AI geflutet werden.

Kurz gesagt: Robotische Arbeitseinstellungen und intellektuelles Mittelmaß werden meiner Meinung auf jeden Fall unter die Räder der Automaten kommen. Über alles andere sollte man jetzt noch nicht spekulieren.

Johannes Stiehler
CO-Founder NEOMO GmbH
Johannes hat während seiner gesamten Laufbahn an Softwarelösungen gearbeitet, die Textinformationen verarbeiten, anreichern und kontextabhängig anzeigen.

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